Eigentlich findet auf der Straße kein Wahlkampf für das Europäische Parlament statt. Einzig Manfred Weber lacht uns an, hin und wieder verstärkt von Angelika Niebler oder einem übergroßen CSU-Wahlaufruf. In München klopft Volt kurze starke Sprüche auf Plakaten, mehr eine intellektuelle Aufgabe. Sarah Wagenknecht gesellt sich seit letzter Woche hinzu. Auch die Freien Wähler hängten Standardplakate auf. Von allen anderen Parteien: Fehlanzeige. Die Medien, Kammern und Verbände betreiben mehr Werbung für die Europawahl als die Parteien selbst. Gerade schockte eine Befragung von 16–23-Jährigen: Sie wählen aus Protest die AfD. 20 % sollen so zusammenkommen. Erstmals dürfen alle Europäer ab 16 Jahren wählen – und nun so etwas. Allerdings gaben viele auch an, das Wahlrecht nicht auszuüben. Dann wird es womöglich doch nicht so schlimm mit der AfD.
Dort wo in Versammlungen oder vor der Kamera die Kandidaten selbst erklären, wofür sie stehen oder Gegnern kontern, wirkt die Wahlauseinandersetzung einfach und überschaubar. Es geht um Ziele, aber sie sind eher abstrakt formuliert. Vielfach unterscheiden sich die Wahlkämpfer kaum und sie wollen nicht aufeinander losgehen wie bei einer nationalen Wahl. Das lässt sich schnell erklären: Im Europäischen Parlament gibt es keine dauerhaften Koalitionen. Jede Gesetzesabstimmung muss neu verhandelt werden, auch wenn hinter der Kommissionspräsidentin mehrere Parteien stehen, die sie mittragen. So gehen Streitgespräche meist über das Abstimmverhalten der Parteien. Insbesondere, wenn sich Überraschungen ergeben trotz Absprachen.
Was hat sich die CDU/CSU gedacht, wenn sie den Wahlkampf mit Manfred Weber titelt, aber Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin bleiben will? Ein Nachhall des Spitzenkandidatenwahlkampfs vor fünf Jahren? Sicherlich ist Weber als EVP-Vorsitzender das Gesicht dieses Parteienverbunds. Es muss auch Ursula von der Leyen im Europaparlament die Abstimmungsmehrheiten besorgen. Das sympathische Lächeln Webers auf den Plakaten soll den Wahlkampf entkrampfen, will zur Wahl einladen. Weber wurde zum Gesicht des ganzen Parlaments. Wir können gespannt sein, ob sich das im Wahlergebnis der EVP niederschlägt. Wird die Wahlbeteiligung steigen? 50 % sind vorgegeben aus 2019. Oder wäre es besser, dass alle Protestwähler die Wahlenthaltung bevorzugen? Das werden wir am Ergebnis der rechten Parteiverbände sehen.
Aus dem Europawahlkampf entsteht der Eindruck, dass es Europaabgeordnete besser haben als Mitglieder des Deutschen Bundestags. Letztere müssen die Politik ihrer Parteien ständig verteidigen. Der Europaabgeordnete ist eben weit weg. Sein Wahlkreis ist auch vielfach größer. Doch der Abstand schafft klare, konsequente Gesetze, vergleichbar mit der Gerichtsbarkeit, die mit jeder höheren Instanz mehr Recht spricht. Letztlich kommen fast alle Gesetze aus Brüssel. Der Bundestag übernimmt sie, wandelt sie ab. In Deutschland tritt meist eine Verschärfung ein. Gleichzeitig wird auf Brüssel geschimpft wegen der Bestimmungen. Ja, die Europawahl ist so wichtig geworden wie noch nie. Immer neue Gebiete sollen via Brüssel geregelt werden: Energie, Verteidigung, Außenpolitik. Warum auch nicht alle Bahnen zusammenlegen?
In Brüssel müssen mehr Argumente gehört werden als in Berlin, denn die 27 Mitgliedstaaten der EU empfinden unterschiedlich, denken aus ihrer Geschichte anders, ihre wirtschaftlichen Verhältnisse liegen anders. Dennoch gelingt es, die übergeordneten Ziele klarer zu verfolgen. Die EVP-Abgeordneten, die wieder gewählt werden wollen, bekennen sich für die Zukunft zu mehr generellen Regelungen. Das „Klein-klein“ soll wegfallen. Das können die Mitgliedsstaaten einbringen. Irgendwie scheinen die Wünsche der Wähler in Brüssel anzukommen. Gut, dass es Wahlen gibt! ek