Die Zeiten, in denen Horst Köhler das Amt des Bundespräsidenten ausübte, liegen lange zurück. Doch jeder Bundespräsident bekommt nach seiner Amtszeit eine personelle Assistenz zuerkannt, um auch weiter staatstragend wirken zu können – nicht so viel wie ein Ex-Kanzler, aber doch eine ordentliche Epanage. So konnte Köhler letzte Woche am Tegernsee vor dem Europäischen Wirtschaftssenat eine Rede halten, zu der der EWS-Vorsitzende Dr. Ingo Friedrich feststellte, dass sie ihm die Sprache verschlagen hätte. Sie war eine Analyse der weltweiten Geopolitik, die in konkrete Handlungsanweisungen für die Politik und die Systeme mündete, eine Bestandsaufnahme der Zeitenwende mit erarbeiteten Chancen und Risiken.
Vielleicht gelingt solch eine Darstellung nur aus der Distanz zur Tagespolitik. Sie muss aber getragen sein von tiefer Kenntnis der politischen Gegebenheiten und Verantwortung. Dieser Horst Köhler ist heute wirklich noch Bundespräsident im Selbstverständnis. Köhler scheint kaum älter geworden zu sein, ein jugendlicher Elder Statesman. Womöglich trägt sein Lebensmittelpunkt am Tegernsee dazu bei. Eigentlich müsste Köhler diese Rede vor großem Publikum mit Presse wiederholen. Sie wäre es auch wert, in Schriftform festgehalten zu werden. Wahrscheinlich wird dies noch kommen, v.a. wenn in Berlin die Fetzen fliegen, der Standort Deutschland ins Wanken kommt. Dann braucht es die Vordenker, die Umsichtigen, eben Staatsmänner anstelle von Politikern.
Köhler beginnt mit dem Ukrainekrieg, mit der veränderten Sicherheitslage in Europa, dass der Westen von den Ukrainern verteidigt wird. Das habe Europa stärker verbunden. Es wird über eine Zusammenführung der Verteidigung und der Energiepolitik verhandelt. Zugleich besteht eine Unsicherheit, wohin sich die USA als Schutzmacht entwickeln. So müsse Europa sich selbst verteidigen können. Hierzu seien große Anstrengungen nötig. Ein geschwächter Putin komme unter den Einfluß Chinas, das gerade unter Xi Jinping noch totalitärer werde. Auch die Macht Chinas müsse zurück gedrängt werden. Europa dürfe nicht länger so abhängig von chinesischer Produktion sein. Ohne große Innovationen aus Europa werde das nicht gelingen.
So sieht Köhler die Demokratien im Wettstreit mit diktatorischen Systemen, die sich auch gegenseitig stützen. Europa müsse sich um die Länder mit Demokratien in der dritten Welt stärker bemühen. Gerade in Afrika bietet sich ein großes Potential. China versucht, diesen Kontinent einzunehmen, doch die kolonialen Verbindungen mit Europa erweisen sich als ebenso stark. An Europas Universitäten werden die Eliten Schwarzafrikas ausgebildet. Das lässt sie Menschenrechte, Rechtsstaat und bürgerliche Freiheiten schätzen. Würde die Entwicklungspolitik Europas gebündelt, hätte Europa mehr Investitionspotential als China.
Die Globalisierung ist neu zu definieren. Sie lässt sich nicht mehr zurück drehen. Doch die Auswahl der Handelspartner darf nicht nur nach ökonomischen Kriterien erfolgen. Länder mit Demokratieansätzen sollen bevorzugt werden. So bieten sich für sie neue große Chancen. Auf Europa warten also gewaltige Aufgaben. Der Ukraine-Krieg habe diese Entwicklung beschleunigt. Über die Ampel-Regierung äußerte Köhler kein Wort. Auch der Klimawandel wurde von ihm explizit nicht angesprochen, obwohl seine Verhinderung die Weltgemeinschaft herausfordert. Demokratien sind dieser Aufgabe wesentlich offener als Diktaturen.
Zusammenfassend könnten die Analyse Köhlers und sein europäisch-demokratischer Gestaltungsraum durchaus eminent wichtig für die Bewältigung der Klimakrise sein. Der Westen inklusive der USA hat die Klimakrise als größte Bedrohung unseres Lebensraums verstanden. Diktaturen können aber nicht mit Appellen beeinflußt werden. Vielmehr bedarf es effizienter Innovationen, die im Nebeneffekt das Klima retten, sowie bewußter Transaktionen zwischen den Ländern, um politischen Druck auszuüben. Der Ex-Bundespräsident müsste seine Rede ins europäische Parlament tragen. ek