Prof. Werner Weidenfeld zählte lange zu den wichtigsten Kanzlerberatern. Der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg steht er als Rektor vor. Mit seinem Centrum für angewandte Politikforschung, kurz CAP, Teil der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, arbeitet er messerscharf an aktuellen Politikanalysen wie z.B. der Europawahl. Die Wertung der Wahlergebnisse veröffentlichte er am 10. Juni in der Abendzeitung unter der Überschrift „Ein Weckruf für Europas Politiker“. Zu viele Neuigkeitseffekte verhindern ein Zurückkehren zur gewohnten Politik. Durch die Absenkung der Wahlberechtigung auf 16 Jahre sei nach Weidenfeld mehr erreicht worden als durch die Appelle, zur Wahl zu gehen. Die höhere Wahlbeteiligung resultiere auch aus einer bisher nicht bekannten Intensität von elektronischen Möglichkeiten.
Die Wettkämpfe der Spitzenkandidaten wirkten prägnanter als in der vorhergehenden Wahl, was ebenfalls die Wahlbeteiligung anhob. Die Spitzenkadidatur von Ursula von der Leyen bot ein viel klareres Profil als der Machtkampf mit Manfred Weber in 2019. Die inhaltliche Dimension der Auseinandersetzung fiel dagegen bescheiden aus. Lange Listen der Parteien mit Inhaltspunkten ihrer Politik kamen nicht beim Wähler an, boten so keine grundlegende Orientierung. Sie waren auch noch schlechter formuliert als früher: Bandwurmsätze mit bis zu 60 Wörtern und unverständliche Wort-Ungetüme entdeckte die Universität Hohenheim in vielen. Im Hohenheimer Verständlichkeitsindex kamen CDU/CSU auf Platz 1. BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) belegte den letzten Platz.
Das Negativ-Urteil über die Arbeit der Ampel-Regierung schlug sich in allen Facetten der Europawahl nieder. Trotz ihrer pro-europäischen Ausrichtung hatten sie Schwierigkeiten, ihr spezifisches sachliches und programmatisches Profil zu vermitteln. Sie konnten ihre Anhängerschaft nicht mobilisieren. Weidenfeld: „Nur der CDU/CSU gelang es mit ruhiger Stabilität, eine Art europäischen Magnetismus auszustrahlen“. Dennoch gewannen die radikalen anti-europäischen Flügelparteien wie AfD und BSW. Der erfolgreiche Kampf der radikalen Randparteien, insbesondere der nationalistischen Varianten, sei das historische Signum der Europawahl 2024.
Weidenfeld: „Europa ist gefährdet von außen und von innen“. Den Kriegen in der Ukraine und in Nahost stehen von innen nationalistische Auszehrungen gegenüber. So melden sich die Anti-Europäer immer lautstärker. Die AfD wurde gewählt mit ihrer Botschaft, Europa müsse sterben. Nationalistische Hochkonjunktur herrsche auch bei unseren europäischen Nachbarn Frankreich, Italien, Ungarn und den Niederlanden. Macron fordert immer wieder, Europa brauche Weckrufe. Doch Weidenfeld verwundert nicht, dass Europa-distanzierte, rechtsnationalistische Parteien als Sieger aus den Wahlkämpfen hervorgehen (Beispiel Österreich und nun Frankreich). Der politisch kulturelle Niedergang Europas, aber auch Deutschlands, der drohende Kollaps, könne nur mit geistiger Orientierung gelöst werden. 80 % der Menschen erklärten in Umfragen, dass sie das alles nicht mehr verstehen, ja viele ergänzten, dass sie Angst hätten. Weidenfeld: „Die Politik muss strategische Perspektiven entwickeln. Sie darf nicht einfach nur in situatives Krisenmanagement abdriften. Das ist ja inzwischen zum eigentlichen Inhalt und Erscheinungsbild der Politik geworden. Es geht um eine zukunftsfähige Gestaltung von Deutschland und Europa, also um ein neues Europa. Und dazu bedarf es strategischer Köpfe.“
Wachsende Erklärungsdefizite und deren Dauer veranlassen die Wähler, Halt und Orientierung zu finden in nationalistischen Dispositionen. Dabei zeigt die Geschichte, dass Krisen auch zu Lernprozessen bei den tragenden Politikern führen können und daraus zu Problemlösungen. Katastrophen brauchen Erklärungen. Nationalistische Populisten bieten keine Lösungen.
Weidenfeld: „Nach mentaler Verarbeitung der Ergebnisse werden die gewählten Entscheidungsträger genauer definieren müssen, was sie in der nächsten Zeit liefern werden: Sicherheit, Umweltschutz, Migration, Wirtschaftskraft – und für alles Transparenz und Legimitation. Nur so wird Europa künftig mehr Leistungskraft und Vertrauen gewinnen.“ ek
Foto: Peggy_Marco / pixabay