Auch wenn der jüngste Nato-Gipfel in Den Haag dem amerikanischen Präsidenten gefiel und sich alle Mitglieder auf 3,5% BIPs für den direkten Wehretat einigten, die Sicherheitslage der EU bleibt weiterhin vage. Die vielen US-Soldaten in Deutschland, aber auch im Baltikum, geben mehr Schutz als die Verkündigungen Donald Trumps. Wenigstens ändert sich an der Stationierung dieser Truppen nichts. Kanzler Friedrich Merz zieht ein positives Fazit zu Den Haag. Auf der anderen Seite bombardiert Putin die Ukraine mit immer mehr Drohnen und Marschflugkörpern. Eine neue Form des Kriegs ist in kürzester Zeit entstanden. Ein Zwischenbericht aus Kiew: Die Ukraine baut 1 Million Drohnen pro Jahr (die sie auch einsetzt) – die Russen freilich 10 Millionen.
Während wir noch über Patriot-Abwehr und Artillerie-Munition mit Selensky verhandeln, scheint Putin mit den neuen Waffen einen Weg zu sehen, die Kapitulation der Ukraine zu erzwingen. Das ist der eigentliche Grund für die faktische Ablehnung von Waffenstillstand- und Friedensverhandlungen. Es stimmt auch, dass der Westen bei der Osterweiterung der EU und Nato Zusicherungen an Moskau nicht einhielt. Daraus kann Putin eine Rechtfertigung seines Kriegs als Verteidigung gegen die Nato sehen, zumindest vorgeben. Es ist aber unübersehbar, wie stark das Drängen ehemaliger Sowjet-Staaten ist, sich mit der Nato in Sicherheit vor Russland zu bringen.
Wird es nach dem Ukraine-Krieg zu einem Angriff Putins auf die Nato kommen? Er will das Baltikum zurückholen. Schließlich leben dort auch viele russische Staatsangehörige. Die Enklave Kaliningrad (früher Königsberg) kassierte Russland nach dem 2. Weltkrieg als russisches Staatsgebiet. Kaliningrad soll einen Anschluss an Russland bekommen. Derzeit fährt ein Zug durch Litauen von Russland nach Russland – Aussteigen in der EU verboten. Die restliche Versorgung läuft über die Ostsee. Aber könnten nicht genauso Deutschland sich wünschen, Königsberg und Ostpreußen wieder in die EU bringen zu können? Auch das gehört in den Ost-West-Dialog. Es wirkten deutsche Philosophen in Königsberg. Der kategorische Imperativ von Immanuel Kant wurde dort verkündet. Ähnlich wie Kafka als deutscher Dichter zählt, obwohl er in Tschechien arbeitete. Riga in Lettland wurde als deutsche Hanse-Stadt groß und mächtig. Der Deutschherren-Orden sicherte militärisch Riga, griff sogar (erfolglos) Vilnius an.
Wer die Geschichte der baltischen Staaten auswertet, kann nur zu dem Ergebnis kommen, dass sie immer von Fremdmächten besetzt waren bis zu Ihrer erkämpften Unabhängigkeit in 1991. Wir sprechen gerne vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Im Baltikum ist es Realität geworden, geschützt von EU und Nato. Wer gerade eine Nichtachtung des Völkerrechts feststellen muss und eine Schwächung von UNO und ihren Unterorganisationen, muss sorgenvoll nach den baltischen Staaten sehen. Wird ihr Existenzrecht durch das Recht des Stärkeren aufgeweicht? Im Baltikum wird erlebbar, dass die EU eine Friedensgemeinschaft darstellt und allen Misstritten und Kriegen von Besetzern der Vergangenheit eine Absolution erteilt hat. Das ist die Idee des Christentums nach dem 2. Weltkrieg. Wir bezeichnen die EU auch gerne als Wertegemeinschaft. Gerade Deutschland bekommt darin viel Nachsehen. Vilnius hatte vor dem Einmarsch von Hitlers Truppen 1941 einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 40%.
Unter all diesen Lehren aus der jüngsten Geschichte und den Zielen der EU stellt sich der Aufbau einer deutschen Brigade südlich von Vilnius zur Verteidigung von Litauen und Lettland als Selbstverständlichkeit dar. Mit dem Bau der Kasernen wurde begonnen. Eine Waldfläche von mehreren Fußballfeldern ist gerodet. Es laufen die Fundamentierungsarbeiten, 20 km von der weißrussischen Grenze entfernt. Eine breite Parallelstraße zur Grenze entsteht gerade. ek
Foto: Eduard Kastner