Am Samstag begann der erste Tag, an dem die EU schrumpfte. Das peinliche Procedere des Austritts Großbritanniens hat alle Noch-Europäer gelehrt, dass ein Austritt an sich schon sehr schwierig ist, ganz abgesehen von seinen politischen und wirtschaftlichen Folgen, die heute noch keiner genau abschätzen kann. Doch alle Experten sind sich einig, dass Großbritannien nun nicht zu alter Größe aufsteigen kann und bestenfalls eine Sonderrolle wie die Schweiz spielen wird. Das British Empire liegt 100 Jahre zurück und die Welt hat sich seitdem so stark entwickelt, dass die Einwohnerzahl Großbritanniens in der Weltstatistik nicht mehr zählt. Auch der Sieg im 2. Weltkrieg ereignete sich vor 75 Jahren und ging voll auf das Konto der USA.
Ich ließ es mir nicht nehmen, am letzten Wochenende, dem Großbritannien noch der EU angehörte, London zu besuchen. In keiner europäischen Hauptstadt wurden in den letzten Jahren so viele Hochhäuser und Glasbauten geschaffen. Das ist sicherlich ein Zeichen von Kapitalisierung und wirtschaftlicher Zuversicht: In London sammelt sich internationales Kapital und sucht Anlage. Der Niedrigzins favorisiert das Investment in Immobilien. Von einer Immobilienblase ist nichts zu spüren. Alle Gebäude sind vermietet und genutzt. Womöglich rührt daher das Selbstwusstsein und der Traum vom Wiedererstarken des Empires.
Die Gesichter in der U-Bahn sind noch heterogener als z.B. in München, wie die Mode, die in London auch mal ganz grell getragen wird. Doch der Anteil von wilden Gesichtsausdrücken, von Leuten in Not, fällt ebenfalls auf. Der Standard der Großstadtbevölkerung liegt schon unter dem deutschen. Dazu passen die vielen grauen Häuser der Vororte. Es liegt Ruß in der Luft. Die U-Bahn schreit nach Sanierung. Doch es fehlt das Geld. Immerhin funktioniert sie tagein tagaus. Durch den Austritt aus der EU werden all diese Dinge nicht besser.
Die EU gab den ausländischen Investoren Sicherheit. Sprachbarrieren bestehen kaum. Sicherlich wird nun eine Zeit des Abwartens und Beobachtens kommen. EU-Institutionen haben London verlassen. Europäische Großunternehmen verlagern ihre Produktion aus Großbritannien. Die Londoner City wird im europäischen Finanzmarkt an Bedeutung verlieren, obwohl sie im internationalen Geschäft stark bleiben wird. Doch Umsatzrückgänge von 10 % sind heute schon entscheidend. Ein Boris Johnson ist auch kein Vertrauen einflößender Premier für die Wirtschaft.
Ein Abkommen über die zukünftige Zusammenarbeit mit der EU, dem größten Markt der Welt, ist bis zum Jahresende nicht hinzubekommen. So müssen qualitative Abstriche hingenommen werden, die später nachzuverhandeln sind, aber zwischenzeitlich Fiktionen hervorrufen. Bis 30. Juni muss Großbritannien die Frist für eine Beibehaltung des Status Quo verlängern. Jedes zusätzliche Jahr wäre für die Wirtschaft auf beiden Seiten das Beste. Auch ein Rosinenpicken der Briten bringt den Volkswirtschaften Vorteile oder anders ausgedrückt: je mehr vom bisherigen Zusammenwirken erhalten bliebe, desto positiver fiele dies in den Wohlständen auf beiden Seiten aus. Um so geringer fielen dann auch die Probleme in Nordirland aus und die Unabhängigkeitsbestrebungen der Schotten. Auch wenn EU-Spitzenpolitiker derzeit betonen, dass ein ausgetretenes Mitglied nicht die gleichen Vorzüge haben darf wie ein Mitglied, so ist dies volkswirtschaftlich falsch. Es wird also keinen harten Brexit zum 1.1.21 geben. Sollte die Verlängerung des Status Quos zum 30.6. nicht erfolgen, wären die Verhandler gezwungen, eine weitestgehende Beibehaltung der Zusammenarbeit festzuschreiben. Großbritannien wird dann ein halbes Mitglied bleiben, ohne Mitsprache in den EU-Institutionen, allerdings auch ohne Beitragszahlungen. Im EU-Parlament fühlten sich die britischen Abgeordneten eh wie in der Probezeit. Es gibt zwar viele persönliche Freundschaften mit den Abgeordneten der anderen EU-Länder, aber diese werden sich erhalten. Wenn Großbritannien mit Drittstaaten Wirtschaftsabkommen schließt, werden diese über Irland immer in der EU ankommen, sich also auch positiv für die EU auswirken. Für wirtschaftlichen Pessimismus aus dem Brexit gibt es aus den Realitäten von 2020 keinen Grund. ek